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Basel, 24. Juli 1872

Gnädiges und verehrungswürdiges Fräulein,

in der nächsten Woche will ich wieder nach München reisen, zunächst als Vertreter der Universität bei dem Jubiläum; im Grunde aber benutze ich dies Jubiläum vor mir selbst als Vorwand, es treibt mich die herrliche Erinnerung an meinen letzten Münchner Aufenthalt; und wenn ich es, bei dieser Wiederholung, nur halb so gut erlebe, wie damals, so bin ich sehr glücklich. Gersdorff wird wahrscheinlich auch wieder kommen, den Tristan werden wir wahrscheinlich auch wieder hören - aber das Eine fürchte ich umso mehr: dass ich Sie, verehrtestes Fräulein, und mit Ihnen die heimischwohltuende und erquickende Atmosphäre unseres damaligen Zusammenseins nicht wieder finden werde. Hier muss also die dankbare Erinnerung helfen; und ich verspreche Ihnen hiermit, dass sogleich das erste Glas, welches ich zusammen mit Gersdorff in München trinken werde, Ihnen und jener schönen Erinnerung geweiht sein soll.

Inzwischen habe ich durch die Zeitungen etwas aus München gehört, was - wenn es wahr sein sollte - für die Bayreuther Dinge ebenso wohl als für uns alle von aufregender Bedeutung ist: dass nämlich Herr von Bülow zum Generalintendanten ernannt, Perfall aber gestürzt sei, d.h. das inzwischen frei gewordene Amt eines Oberzeremonienmeisters erlangt habe. Ich würde aus einer solchen Tatsache auf die günstigsten Möglichkeiten schließen: damit wäre vielleicht die Brücke zu mehrfachen Aussöhnungen - Verständigungen gefunden; und hoffentlich ist es dann auch möglich, die ausgezeichneten Münchner Künstler (ich meine besonders das Orchester) nicht länger in dieser peinlichen Entfernung von Bayreuth halten zu müssen. Auch für die persönlichen Dinge Herrn v B.'s wäre damit eine Bahn geöffnet. Übrigens ist Gersdorff, auf seiner Rückreise von Bayreuth, eine größere Strecke zusammen mit den Masettis gefahren, in der lebhaftesten Unterhaltung: man hatte ihn an der Lektüre des Tristanbuches als Münchner Festgast erkannt: Gersdorff schreibt, er habe besonders Gelegenheit gehabt, kräftig für Frau Wagner einzutreten und freue sich, gerade das gekonnt zu haben.

Der Plan - Sie wissen, gnädigstes Fräulein, welcher Plan - hat die Billigung von Frau W. gefunden und ist als "praktisch" anerkannt worden - ein seltener Stolz für mich unpraktischen Gesellen. Leider ist jetzt alle Welt in aller Welt zerstreut: und so hat G. bis jetzt nur brieflich sich an Frau v. Schleinitz wenden können. Frau W. will Feustel für die geschäftliche Leitung des Unternehmens gewinnen. Der nächste Winter muss die Sache fertig machen: wenn Sie aber, verehrtes Fräulein, die eventuelle Zustimmung der Ihnen befreundeten Personen schon jetzt gewinnen könnten, so tun Sie es doch ja, ich bitte Sie recht sehr darum. Bei meinem nächsten Münchner Aufenthalte will ich versuchen, recht tätig zu sein.

Nächstens erscheint eine Schrift meines Freundes Rohde, als "Sendschreiben eines Philologen an R. W.", in der der Pamphletist gezüchtigt wird. Dagegen bin ich mit dem ersten Entwurfe einer neuen Schrift beschäftigt - der Zustand erster Konzeptionen hat etwas SehrBeglückendes und EinsamMachendes; - trotzdem bin ich aber überzeugt, bei manchen Freunden meines früheren Buches einen tüchtigen Misserfolg zu erleben. Denn es geht darin gar nicht "dionysisch" zu, aber es ist sehr viel von Hass Streit und Neid die Rede, das gefällt nicht. Denn so sind die meisten Leser - sie konstruieren sich nach einem Buche den Autor, und wehe, wenn er in einem nächsten Buche ihrer Konstruktion nicht entspricht!

Nun schreibe ich Ihnen noch ein paar Gedichtchen ab, ungedruckte Gedichtchen von Goethe , als "Reisesegen" der künstlerisch und menschlich sehr befähigten Gräfin Egloffstein zugesandt. Sie wurden mir in diesen Tagen von Frl. Kästner (der letzten noch lebenden Tochter Lotte's) vorrezitiert, und ich zitiere sie wieder aus dem Gedächtnis - Ihnen, gnädigstes Fräulein, und keinem Menschen weiter; denn die anderen Menschen lassen sie drucken.

Reisesegen Sei die Zierde des Geschlechts! Blicke weder links noch rechts! Schaue von den Gegenständen In Dein Innerstes zurück! Sicher traue Deinen Händen! Eignes fördre - Freundesglück! Reisesegen (bei einer Reise nach Dresden) Ein guter Geist ist schon genug: Du gehst zu hundert Geistern! Vorüber wallt ein ganzer Zug Von großen, größern Meistern. Sie grüßen alle Dich fortan Als ihren Junggesellen; Sie winken freundlich Dir heran Zu ihnen Dich zu stellen. Du stehst und schweigst am heilgen Ort Und möchtest gern sie fragen. Am Ende ist's ein einzig Wort, Was sie Dir alle sagen. Dies Wort ist "Wahrheit".

Damit nehme ich heute von Ihnen Abschied. Wenn Sie es mir gestatten wollten, so gebe ich Ihnen von Zeit zu Zeit von mir Nachricht, um bei jeder Gelegenheit Ihnen sagen zu können, wie sehr ich Sie, verehrungswürdiges Fräulein, liebe und wie dankbar ich immer an Sie denke.

Mich Ihnen und Fräulein Olga Herzen recht von Herzen anempfehlend grüße ich Sie als

Ihr ergebenster Diener Prof. Dr. Friedrich . Nietzsche.



               
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