Auf den ersten Blick ist die Frage eindeutig zu beantworten: Nietzsche hat den
"Idealismus" verdammt
"Als ich fast am Ende war, dadurch, dass ich fast am Ende war, wurde ich nachdenklich über diese Grund-Unvernunft
meines Lebens - den 'Idealismus'." [Quelle: Ecce Homo, klug 2]
und als "Grundunvernunft" seines Lebens bezeichnet. Seine
Entwicklung
hat er als den Weg eines Idealisten zum Realisten beschrieben und - in einer der prachtvollsten Passagen deutscher Prosa -
sein Buch
Menschliches, Allzumenschliches
als
Wendepunkt
"Menschliches, Allzumenschliches ist das Denkmal einer Krisis
der Titel sagt 'wo
ihr
ideale Dinge seht, sehe
ich
- Menschliches, ach nur Allzumenschliches!' ...
Sieht man genauer zu, so entdeckt man einen unbarmherzigen Geist, der alle Schlupfwinkel kennt, wo das Ideal heimisch ist,
- wo es seine Burgverliese und gleichsam seine letzte Sicherheit hat.
mit einer schneidenden Helle wird in diese
Unterwelt
des Ideals hineingeleuchtet. Es ist der Krieg, aber der Krieg ohne
Pulver und Dampf, ohne kriegerische Attitüden, ohne Pathos und verrenkte Gliedmaßen - dies alles selbst wäre noch
'Idealismus'. Ein Irrtum nach dem anderen wird gelassen aufs Eis gelegt, das Ideal wird nicht widerlegt -
es erfriert ...
Hier zum Beispiel erfriert 'das Genie'; eine
Ecke
weiter erfriert 'der Heilige'; unter einem dicken Eiszapfen erfriert
'der Held'; am Schluss erfriert 'der Glaube', die sogenannte 'Überzeugung', auch das 'Mitleiden' kühlt sich bedeutend ab
- fast überall erfriert 'das Ding an sich' ... [Quelle: Ecce Homo, 1]
dargestellt.
Trotzdem kann man Nietzsche nicht ohne Wenn und Aber als "Realisten" bezeichnen. Er ist z.B. ein entschiedener
Gegner jenes "Realismus", wie er ihn vor allem bei angelsäschsichen Geistern zu konstatieren glaubt: eines
Glaubens an die "platte Wirklichkeit". Das Gegenwort zu "platt" ist "tief", aber auch hier
liegt ein Problem: Nietzsche kontrastiert Tiefe nicht einfach mit Oberfläche, im Gegenteil, er rühmte die Griechen für
ihre
"Oberflächlichkeit aus Tiefe"
"Oh diese Griechen! Sie verstanden sich darauf, zu
leben:
dazu tut not, tapfer bei der Oberfläche, der Falte,
der Haut stehen zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu
glauben! Diese Griechen waren oberflächlich -
aus Tiefe!
Und kommen wir nicht eben darauf zurück, wir Wagehalse des
Geistes, die wir die höchste und gefährlichste Spitze des gegenwärtigen Gedankens erklettert und uns von da aus
umgesehen haben, die wir von da aus
hinabgesehen haben?
Sind wir nicht eben darin - Griechen? Anbeter der Formen,
der Töne, der Worte? Eben darum - Künstler?" [Quelle: Die fröhliche Wissenschaft, Vorrede 4]
.
Wenn man so will, kann man Nietzsche auch als Hyperrealisten sehen: Ein in die Tiefe dringender Realist darf in seinen Augen
kein "Positivist" sein, sondern muss das "Negative", Tod und Vernichtung als Bestandteile der Realität
erfassen und bejahen. Dies geschieht im Begriffsbild des
Dionysischen.
Der Hass auf den "Idealismus" ist es auch, der Nietzsche kurz vor seinem Zusammenbruch dazu führt, mit
Malwida von Meysenbug
- die er persönlich verehrt und der er viel verdankt - in
schroffster Weise
An Malwida von Meysenbug, 20. Oktober 1888: "Ich habe allmählich fast alle meine menschlichen Beziehungen abgeschafft,
aus
Ekel
darüber, dass man mich für etwas anderes nimmt als ich bin. Jetzt sind Sie an der Reihe. Ich sende Ihnen seit
Jahren meine Schriften zu, damit Sie mir endlich einmal, rechtschaffen und naiv, erklären 'ich
perhorresziere jedes Wort'. Und Sie hätten ein Recht dazu. Denn Sie sind 'Idealistin' - und
ich
behandle den Idealismus als eine instinktgewordene Unwahrhaftigkeit, als ein Nicht-sehen-Wollen der Realität um jeden Preis:
jeder
Satz meiner Schriften enthält die
Verachtung
des Idealismus. Es gibt über der bisherigen Menschheit gar kein schlimmeres Verhängnis als
diese
intellektuelle Unsauberkeit; man hat den Wert aller Realitäten entwertet, damit, dass man eine 'ideale
Welt'
erlog
...
- Sie haben sich - etwas, was ich nie verzeihe - aus meinem Begriff 'Übermensch' wieder einen 'höheren Schwindel' zurecht
gemacht, etwas aus der Nachbarschaft von Sybillen und Propheten
Sie haben nie ein Wort von mir verstanden" [Quelle: KSB 8,457]
zu brechen.
Aber zwei Wochen später (am 5. November 1888) bekennt Nietzsche: "Ohne allen Zweifel, ich habe Ihnen
Unrecht
getan". [Quelle: KSB 8,463] In der Tat, Nietzsche war in seiner gesamten Lebenspraxis ein Idealist, und es wäre wohl nicht falsch, ihn
als "idealistischen Realisten" zu charakterisieren.