"Der Wille zur Macht" ist zunächst einmal kein Werk Nietzches, geschweige denn sein
Hauptwerk.
Es ist auch kein "Begriff"; in der Öffentlichkeit ist es ein ominöses Schlagwort, in Nietzsches Werk eine provokante
Parole, die Nietzsche mit dem gleichen Gusto in die Welt setzt, mit dem er seinen Schnauzbart trägt.
Von Alfred Baeumler
- der wegen seiner Tätigkeit im Dritten Reich sehr umstritten ist - hätte man erwarten können, dass er den "Willen zur Macht"
als eine Art Nazi-Fanfare ertönen lässt. Statt dessen schreibt Bäumler 1931, nichts habe dem Verständnis von Nietzsches Philosophie
"so im Wege gestanden" wie dieser Titel, und er
begründet
Bäumler: "Man glaubte zu wissen, was 'Wille' und was 'Macht' sei und legte den Titel entsprechend aus. In Wahrheit ist
nichts so schwer zu verstehen und zu umschreiben wie das, was Nietzsche mit den Worten
eigentlich meint. Das Verständnis beginnt in dem Augenblick, wo man die Verkoppelung der Begriffe 'Wille' und 'Ziel'
aufgibt. Der Wille zur Macht ist nicht ein Wille, der Macht zum Ziel hat
Er
ist das ewige Werden selbst, das kein Ziel kennt."
(Nietzsche als Philosoph und Politiker,
Leipzig 1931, S. 46; Baeumler versucht übrigens auch zu erklären, wie es möglich war, das Nietzsche für sein
"Hauptwerk" auch einen gänzlich konträr klingenden Titel erwogen hat, nämlich
Die Unschuld des Werdens.)
das auch.
Als polemische Parole gesehen, ist der "Wille zur Macht" ein Affront gegen den "Willen zur Ohnmacht", d.h. gegen
ein Schutz-suchen-Wollen in christlich geheiligter Schwäche. Wer diesen geheiligten Willen zur Ohnmacht predigt, der muss natürlich
seinen eigenen Trieb nach Überlegenheit und Überwältigung leugnen - was für Nietzsche zum Grundmuster der heuchlerischen Moral gehört
- und
das Leben als Ganzes verkennen
"Leben selbst ist
wesentlich
Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigener Formen,
Einverleibung und mindestens, mildestens Ausbeutung
In keinem Punkt ist aber das gemeine Bewusstsein der Europäer widerwilliger gegen Belehrung als hier; man schwärmt jetzt
überall, unter wissenschaftlichen Verkleidungen sogar, von kommenden Zuständen der Gesellschaft, denen 'der ausbeuterische
Charakter' abgehen soll: - das klingt in meinen Ohren, als ob man ein Leben zu erfinden verspräche, welches sich aller
organischen Funktionen enthielte."
[Quelle: Jenseits von Gut und Böse, 259, Kritische Studienausgabe 5,207]
.
Damit ist keineswegs gesagt, dass Nietzsche die Gewaltsamkeit der Lebenswirklichkeit verherrlicht. Ganz im Gegenteil, nicht nur
sieht er den Machtwillen als
"Dämon des Menschen"
"Nicht die Notdurft, nicht die Begierde - nein, die Liebe zur Macht ist der Dämon der Menschen. Man gebe ihnen alles,
Gesundheit, Nahrung, Wohnung, Unterhaltung - sie sind und bleiben unglücklich und grillig: denn der Dämon wartet und wartet
und will befriedigt sein. Man nehme ihnen alles und befriedige diesen: so sind sie beinahe glücklich - so glücklich, als
eben Menschen und Dämonen sein können. Aber warum sage ich dies noch? Luther hat es schon gesagt, und besser als ich, in
den Versen: 'Nehmen sie uns den Leib, Gut, Ehr', Kind und Weib: lass fahren dahin - das Reich muss uns doch bleiben!'
Ja! Ja! Das 'Reich'!"
[Quelle: Morgenröte, 262]
,
er stellt auch das Streben nach
"Auszeichnung"
"eine Moralität, die ganz auf dem
Trieb nach Auszeichnung
beruht - denkt nicht zu gut von ihr! Was ist denn das eigentlich für ein Trieb und welches ist sein Hintergedanke?
Man will machen, dass unser Anblick dem anderen
weh tue
und seinen Neid, das Gefühl der Ohnmacht und seines Herabsinkens wecke; man will ihm die Bitterkeit seines Fatums zu
kosten geben, indem man auf seine Zunge einen Tropfen
unseres
Honigs träufelt und ihm scharf und schadenfroh bei dieser vermeintlichen Wohltat ins Auge sieht."
[Quelle: Morgenröte, 30]
und
"Überlegenheit"
"Das sind mir stolze Gesellen, die, um das Gefühl ihrer Würde und Wichtigkeit herzustellen, immer erst andere
brauchen, die sie anherrschen und vergewaltigen können
- so dass sie die Erbärmlichkeit ihrer Umgebung nötig haben, um sich auf einen Augenblick über die eigene Erbärmlichkeit
zu heben!"
[Quelle: Morgenröte, 369]
in Frage. Der "vornehme Mensch" braucht das nicht und will das nicht.