Nietzsche ist - wie der Papst - ein Verfechter von Autorität gegen Anarchie, was aber nicht heißt, dass ihm jegliche Form von
Hierarchie willkommen ist. Im Gegenteil, er befürwortet weder das Regiment der Hohenzollern noch das der "Börsenfürsten"
(Nietzsche ist da ausgesprochen
antikapitalistisch)
oder gar die sozialistische Tyrannei (die er
prophezeit).
Nietzsche ist auch eher ein
Revolutionär
als ein
Konservativer
Nietzsche betrachet die "Konservativen" als Illusionisten:
"Den Konservativen ins Ohr gesagt.
- Was man früher nicht wusste, was man heute weiß, wissen könnte -, eine
Rückbildung,
eine Umkehr in irgendwelchem Sinn und Grade ist gar nicht möglich. Wir Physiologen wenigstens wissen das."
[Quelle: Götzen-Dämmerung, Streifzüge 43]
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Sofern allerdings die "konservative Revolution" den Kern des Anarchismus im Individualismus sah, stand sie
Nietzsches Denken nicht fern. Jedenfalls haben Denker, die man zu den "Rechten" zählt, Nietzsche weit mehr zu nutzen
verstanden als "Linke".
Die Frage, die hinter dem Etikett "rechts" steht, ist natürlich die Gretchenfrage nach Nietzsches "Faschismus".
Ihn als reglären Faschisten einzustufen ist
unmöglich
Dass Nietzsche als Philosemit, Antisozialist, Antinationalist und Antirassist (der sich über die Germanen lustig macht,
speziell die Germanen Richard Wagners) sich Nietzsche nicht irgendwie einreihen lässt in die SA- oder SS-Formationen,
das liegt auf der Hand.
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Gefragt wird also: War er ein Protofaschist, eine Kryptofaschist, ein Edelfaschist? Die Frage ist falsch gestellt, denn "edel"
und "Faschist" schließen sich gegenseitig aus. Jene pyramidale "Volksgemeinschaft" mit ihrem "Führerprinzip"
(das oben "den Führer" und unten den Blockwart ergab), ist gänzlich unvereinbar mit dem, was Nietzsche unter
"vornehm"
Vornehm sind für Nietzsche Menschen, die "sich gewöhnt haben, von den Menschen nichts zu wollen und ihnen immer zu geben"
[Quelle: Menschliches, Allzumenschliches I, 493];
der vornehme Mensch hat "Ehrfurcht vor seinen Feinden"
[Quelle: GEN I, 10]; "Sich nicht auf den Handel verstehen, ist vornehm."
[Quelle: Morgenröte, 308]
versteht. "Unvornehm" hingegen ist in seinen Augen insbesondere das
Verlangen nach Vornehmheit
"Man findet heute unter Künstlern und Gelehrten genug von solchen, welche durch ihre Werke verraten, wie eine tiefe
Begierde nach dem Vornehmen hin sie treibt: Aber gerade dies Bedürfnis nach dem Vornehmen ist von Grund aus verschieden von den
Bedürfnissen der vornehmen Seele selbst, und geradezu das beredte und gefährliche Merkmal ihres Mangels."
[Quelle: Jenseits von Gut und Böse 287]
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Interessanter ist die Frage nach Nietzsches
Affinität zum Militärischen
Heinrich Köselitz,
der 1875 eigens wegen Nietzsche nach Basel kommt, erzählt von der ersten Begegnung: "Als wir ihm bald danach unsere
Aufwartung machten, waren wir frappiert von seinem Aussehen. Ein Militärsmann! kein 'Gelehrter'.
Der Eindruck war der einer eminenten Selbstbeherrschung."
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Nietzsche ist so stolz auf seinen Militärdienst, dass er sich mit Säbel fotografieren lässt, und später spricht er von sich selbst
gern als "alter Artillerist". Aber der preußische "Kommisston" ist Nietzsche
gründlich zuwider
"Etwas Höhnisches, Kaltes, Gleichgültiges, Nachlässiges in der Stimme: das klingt jetzt den Deutschen 'vornehm' -
ja die kleinen Mädchen machen schon dieses Offiziersdeutsch nach.
Man gebe Acht auf die Kommandorufe, von denen die deutschen Städte förmlich umbrüllt werden, jetzt, wo man vor allen Toren
exerziert: welche Anmaßung, welches wütende Autoritätsgefühl, welche höhnische Kälte klingt aus diesem Gebrüll heraus!
Sollten die Deutschen wirklich ein musikalisches Volk sein? - Sicher ist, dass die Deutschen sich jetzt im Klang ihrer
Sprache militarisieren"
[Quelle: Die fröhliche Wissenschaft, 104]
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Sein Abscheu vor dem Wettrüsten der europäischen Großmächte seiner Zeit veranlasst ihn sogar zu einer Verteidigung des
Pazfismus
Sich wehrlos machen, während man der Wehrhafteste war,
aus einer Höhe der Empfindung heraus, - das ist das Mittel zum wirklichen Frieden, welcher immer auf einem Frieden der
Gesinnung ruhen muss: während der sogenannte bewaffnete Friede, wie er jetzt in allen Ländern einhergeht, der Unfriede
der Gesinnung ist
Lieber zugrunde gehen als hassen und fürchten, und
zweimal lieber zugrunde gehen als sich hassen und fürchten machen -
dies muss einmal auch die oberste Maxime jeder einzelnen staatlichen Gesellschaft werden!"
[Quelle: Menschliches, Allzumenschliches, II, Wan 284]
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Bedeutsamer ist allerdings, dass Nietzsche (im Zusammenhang mit seinen Vorbehalten gegen
Demokratie)
ein fast messianisches Verlangen nach einer "neuen Art von Philosophen und Befehlshabern" entwickelt. Wie er davon
spricht, ist durchaus
beängstigend
"große Wagnisse und Gesamtversuche von Zucht und Züchtung vorzubereiten, um damit jener schauerlichen Herrschaft des
Unsinns und Zufalls, die bisher 'Geschichte' hieß, ein Ende zu machen -
dazu wird irgendwann einmal eine neue Art von Philosophen und Befehlshabern nötig sein, an deren Bild sich alles, was auf
Erden an verborgenen, furchtbaren und wohlwollenden Geistern dagewesen ist, blass und verzwergt ausnehmen möchte. Das Bild
solcher Führer ist es, das vor
unseren
Augen schwebt:
andererseits die
erschreckliche Gefahr, dass sie ausbleiben oder missraten und entarten könnten - das sind
unsere
eigentlichen Sorgen und Verdüsterungen"
[Quelle: Jenseits von Gut und Böse, 203, Kritische Studienausgabe 5,126f)
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Wir wissen heute, dass Nietzsches Sorge, die ersehnten Führer könnten "missraten und entarten", mehr als berechtigt war.
Noch erstaunlicher, ja geradezu unheimlich ist es, wie Nietzsche sich das mögliche Missraten eines solchen Führers ausmalt.
Er zeichnet das
prophetische
Bild eines "großen" Staatsmannes, der als nationalistischer Agitator das deutsche Volk - es ist damals am meisten
alphabetisierte Volk der Welt -
in den Abgrund reißt
"Gesetzt, ein Staatsmann brächte sein Volk in die Lage, fürderhin 'große Politik' treiben zu müssen, für welche es
von Natur schlecht angelegt und vorbereitet ist
- gesetzt, ein Staatsmann verurteilte sein Volk zum 'Politisieren' überhaupt, während dasselbe bisher Besseres zu tun und zu
denken hatte
- gesetzt, ein solcher Staatsmann stachle die eingeschlafenen Leidenschaften und Begehrlichkeiten seines Volkes auf,
entwerte ihm seine herzlichsten Hänge, drehe sein Gewissen um, mache seinen Geist eng, seinen Geschmack 'national', - wie!
ein Staatsmann, der dies alles täte, den sein Volk in alle Zukunft hinein, falls es Zukunft hat, abbüßen müsste, ein solcher
Staatsmann wäre
'groß?'"
[Quelle: Jenseits von Gut und Böse, 241, Kritische Studienausgabe 5,181)
Nota bene:
Joachim Fest beginnt seine Hitler-Biographie mit der völlig berechtigten Frage nach "Größe"; das deutsche Volk hat
ihn aber noch lange nicht "abgebüßt".
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