Paul Deussen (1845-1919), deutscher Philosophiehistoriker und Indologe, Gründer der Schopenhauergesellschaft.
Paul Deussen wurde am 7.1.1845 als Sohn eines Pfarrers in Oberdreis (Kreis Neuwied) geboren. Er besuchte das Internat
1889 erhielt Deussen eine Professur in Kiel. 1911 gründete er die Schopenhauergesellschaft, wurde ihr erster Präsident und gab eine kritischen Schopenhauerausgabe in 14 Bänden heraus. Seine akademische Parteinahme für Schopenhauer brachte Deussen schon früh Protestartikel der reaktionären Zeitung "Echo der Gegenwart" ein, dazu eine Interpellation im Preußischen Landtag und ein Monitum des Kulturministeriums, er möge künftig die Philosophie nicht mehr über Platon (nach rückwärts) und über Kant (nach vorwärts) ausdehnen. Er hielt weiterhin erfolgreiche Vorträge, meist über Kant und Schopenhauer. 1913, in der Urania in Wien, fügte er vor 500 Zuhörern den Philosophen Nietzsche hinzu, dessen Unglück er vor allem durch sein Abfallen von Schopenhauers Lehre erklärte. Deussen machte sich zudem einen Namen als der erste Philosophiehistoriker, der die indische Philosophie gründlich erforscht hat. Er starb am 6.7.1919 in Kiel.
Paul Deussen war der dauerhafteste und anhänglichste Jugendfreund von Friedrich Nietzsche. Deussen war ein Pfarrerssohn wie Nietzsche, kam aber aus einem dörflich-bäuerlichen Umfeld, in dem es an Manieren mangelte. Deussen bezeichnete sich selbst in einem Brief an Nietzsche als "plebejische Natur", was in Kontrast steht zu Nietzsches eigenem Majestätsbewusstsein (Abstammung von polnischem Adel usf.) stand. Als Nietzsches Freund hatte Deussen die Rolle des Plebejers, des emsigen Aufsteigers aus kleinen Verhältnissen einzunehmen.
Deussen und Nietzsche besuchten gemeinsam das Internat Schulpforta bei Naumburg (sie trafen im Herbst 1859 in der Obertertia zusammen), wo sie um den ersten Platz wetteiferten: Deussen war besser in Latein und Griechisch, Nietzsche schlug ihn dafür im deutschen Aufsatz. Deussen stand schon um 5 Uhr auf, um Italienisch zu lernen und galt als Spießer, womit in Schulpforta Streber gemeint war. Dei beiden Gelehrten fanden gegen die Klasse zueinander, aber Deussen wurde gelegentlich von Nietzsche ausgestochen. Schon damals war es sein Los, nebenher zu trotten. Nietzsche verwies den Fleißig-Bescheidenen immer wieder auf seinen Platz. Deussen dagegen huldigte dem höheren Geist mit Briefen, in die er seinen ganzen Bildungseifer, seine kühnsten Stilbemühungen und sein primanerhaftes Pathos legte. (Nietzsche ließ sich die Huldigungen gefallen, protestierte aber gelegentlich gegen den überanstrengten Stil.) Er folgte Nietzsche auf allen Wegen und wurde doch jedes Mal für seine treue Gefolgschaft zurecht gewiesen. Kaum war Deussen wie Nietzsche von der Theologie zur Philologie übergegangen, begann dieser, die das Philologiestudium scharf zu kritisieren. Wie Nietzsche begeisterte sich Deussen für die Lehren Schopenhauers, aber bald gab ihm Nietzsche zu verstehen, dass es nicht so sehr auf Schopenhauers Philosophie als auf ein Lebensmodell ankomme. Als Nietzsche auf dem Klavier zu komponieren begann, mietet sich auch Deussen ein Klavier und übte leichte Sonaten von Mozart und Hayden ("sie fallen mir aber noch schwer"), ein rührendes Bemühen, dem Freund - wenn nicht ebenbürtig - so doch eng verbunden zu sein.
Als Deussen 1901 auf die Schulzeit zurückblickte, beschrieb er die Freundschaft zu Nietzsche so: "Ein neues Band zwischen uns knüpfte am Sonntag Lätare des Jahres 1861 die gemeinsame Konfirmation. Als die Konfirmanden paarweise zum Altar traten, um kniend die Weihe zu empfangen, da knieten Nietzsche und ich als nächste Freunde nebeneinander."
Nach dem Abitur (1864) gingen beide an die Universität zu Bonn. Die Reise nach Bonn gestalteten die Freunde als Abenteuerfahrt, angefangen mit einer heiteren Schiffspassage auf dem Rhein, einem Besuch bei Deussens Vetter Ernst Schnabel in Elberfeld, gefolgt von einem Besuch bei Deussens Eltern im Pfarrhaus von Oberdreis bei Neuwied. Nietzsche war von Deussens Familie angetan und sah im Oberdreiser Leben "eine seltene Vereinigung von Einfachheit und Luxus".
Deussen berichtete heiter davon, wie die beiden (im September 1864) mit Schnabel auf den Drachfels geritten seien und Nietzsche fortwährend bei den Pferdeohren Maß genommen habe, um festzustellen, ob er Pferd oder Esel reite.
In Bonn bezogen Deussen und Nietzsche eigene "Studentenbuden", trafen sich aber täglich zum gemeinsamen "Mittagstisch". Als Deussen zu Weihnachten 1865 von der Universität nach Hause fuhr, schrieb Nietzsche spöttisch "Deussen ist gestern nach Hause abgezogen, schwer bepackt mit Büchern und einem alten Reisesack. Er sah nicht schön aus." Entfremdung war eingetreten, Nietzsche machte sich über den bäuerischen Deussen lustig.
Als Nietzsche Deussen in den Karnevalsferien in Oberdreis bei seinen Eltern besuchte, genoss er das harmonische Familienleben. Danach entwickelten sich die Lebenswege und - anschauungen der beiden auseinander. Nietzsche wechselte an die Universität Leibzig, verbrachte viel Zeit mit anderen Pforteranern, ging oft zu dem Berliner
Zu einer ernsten Krise kam es, als Deussens briefliche Gratulation zu Nietzsches Berufung zur Professur in Basel (1869) diesen verärgerte. Deussen wählte den falschen Ton, berichtete auch von sich selbst und zog eine Parallele zwischen seiner damals trüben Lage und dem Erfolg des Freundes. Nietzsche schickte als Antwort ein Billett mit dem schneidenden Satz: "Werter Freund, wenn nicht etwa zufällige Störungen Deines Kopfes Deinen letzten Brief verschuldet haben, so muss ich bitten, unsere Beziehung hiermit als abgeschlossen zu betrachten. F.N." Als Deussen verstört anfragte, wie Nietzsche seinen Brief so habe missverstehen können, bekam er als Beweisstück erstens seinen Brief zurück, zweitens den Gratulationsbrief
Ein längeres Zerwürfnis leitete ein Brief Deussens ein, in dem er sich über Schopenhauer begeisterte und als verwandter Geist im Höhenflug mit Nietzsche und anderen der Schopenhauergemeinde begriff. Das Schreiben war in schlimmstem Theologendeutsch und Kanzelpathos, von Jesus auf Schopenhauer übertragen, verfasst. Der Ton musste Nietzsche um so mehr verärgern, als er in Bezug auf den neuen Messias nur die Rolle Johannes des Täufers zugewiesen bekam und Deussen sich als Jünger ebenbürtig aufdrängte. Nietzsche antwortete nicht und als Deussen erneut schrieb und um Antwort fragte, erwiderte Nietzsche mit diesem Aphorismus: "Wir glauben uns durch Aufnahme eines großen Genius zu erweitern. In Wahrheit verengen wir den Genius, dass er in uns hinein kann." Deussen verstand und blieb stumm. Erst am nächsten Schopenhauer-Geburtstag (22. Februar 1871) schrieb er versöhnliche "Der einzige von allen Menschen, bei dem ich den unverkennbaren, unzweifelhaften Eindruck der Superiorität empfunden habe - bist eben Du. [...] Es gilt, den fremden Palast, in dem ich so prunkend wohnte, zu verlassen und aus eigenen Mitteln - ach nur eine Hütte mir zu bauen. [...] Das ist's, was es mir zur Zeit so schwer macht, vor Dir zu erscheinen. Es wird sich ändern." Nietzsche antwortete mit der Aufforderung, Deussen möge ihn besuchen kommen. Der Briefwechsel zeigt, dass die Freundschaft von Deussens Seite geprägt war durch eine Ambivalenz aus Demut und Stolz vor dem Fürstenthron, Nacheifern und Eifersucht, Abschauen und Überbietungsdrang. Von Nietzsches Seite kam genaue Einsicht in Deussens Schwäche, aber auch Erinnerung an alte Freundschaftsdienste und Hoffnung auf Gefolgschaft, zugleich Abweisung und Annäherung, Nicht-Zulassung und Einladung zum engsten Kreis.
Ein Fiasko war Deussens Besuch in Basel: Er hatte sich für den 23. Oktober 1871 bei Nietzsche angemeldet, musste aber bis abends auf seinen Gastgeber warten, der mit Jacob Burckhardt das Nachtleben auskostete. Als Deussen sich nicht drängen ließ, seinen Aufenthalt zu verlängern und am nächsten Morgen abreiste, warf ihm Nietzsche brieflich dessen bäuerliche Formlosigkeit vor. Deussen hat der Nachwelt diesen Brief vorenthalten, was auf grobe Abkanzelungen schließen lässt, erhalten ist aber sein Rechtfertigungsbrief vom April 1972: "So behandelt man keinen Freund; so spricht man zu einem Lumpen, den man verachtet. - Ich bedanke mich." Trotz des angedrohten Freundschaftsabbruchs lenkte Deussen am Ende ein: "Und nun, mein Freund, - entschließe Dich entweder, mich menschlich zu behandeln, oder - doch das mag ich nicht denken, geschweige denn aussprechen." Nietzsche war besänftigt und lud Deussen zu einem Besuch ein ("Du sollst herzlich und gut empfangen sein und wirst mancherlei von hier forttragen, was nie den Weg des Briefes gehen wird."), der harmonisch verlief.
Als positiver Schicksalsfüger trat Nietzsche 1871 in Deussens Leben, als er ihm eine vorzügliche Hauslehrerstelle bei einer russischen Familie verschaffte und damit Deussen ermöglichte, sich als Privatdozent auf die Universitätslaufbahn vorzubereiten. Deussen machte sich in den vornehmen Kreisen der Gesellschaft bekannt und begann erfolgreich seine wissenschaftliche Karriere.
1887, achtzehn Jahre nach Nietzsche, erhielt Deussen eine ordentliche Professur in Kiel. Nachdem sich die beiden vierzehn Jahre nicht gesehen hatten, besuchte Deussen - mit Amt und Würden und einer ansehnlichen Frau versehen - Nietzsche in Sils-Maria. Deussens Schilderung des Besuchs (vom 2. bis 4. September 1887) verhehlt nur mühsam das Triumphgefühl der fleißigen Ameise, der es nun soviel besser geht als der übermütigen Zikade. Aus der Beschreibung (im Rückblick von 1901) spricht aber auch Mitgefühl und Verbundenheit mit dem langjährigen Freund: "... wo ich mit klopfendem Herzen dem Freund entgegen trat und ihn nach vierzehnjähriger Trennung tief bewegt umarmte. Aber welche Veränderungen waren in dieser Zeit mit ihm vorgegangen. Das war nicht mehr die stolze Haltung, der elastische Gang, die fließende Rede von ehedem. Nur mühsam und etwas zur Seite hängend, schien er sich zu schleppen, und seine Rede wurde öfter schwerfällig und stockend. [...] Am nächsten Morgen führte er mich in seine Wohnung, oder, wie er sagte, seine Höhle. [...] Alles deutete auf eine nachlässige Bedienung und auf einen geduldigen, sich in alles ergebenden Herrn. [...] Hier sprach er nochmals die düstere Ahnung aus, welche sich leider so bald erfüllen sollte. Als wir Abschied nahmen, standen ihm die Tränen in den Augen, was ich früher nie an ihm gesehen hatte. Ich sollte ihn nicht mehr mit klarem Bewusstsein wiedersehen."
Die letzte Begegnung der Freunde fand am 15. Oktober 1894, Nietzsches Geburtstag, statt. Deussen und seine Frau besuchten den geistig umnachteten in Naumburg: "Seine Mutter führte ihn herein, ich wünschte ihm Glück, erzählte ihm, dass er heute 50 Jahre alt werde, und überreichte ihm einen Blumenstrauß. Von alle dem verstand er nichts. Nur die Blumen schienen einen Augenblick seine Teilnahme zu erregen, dann lagen auch sie unbeachtet da" (Deussen, 1901).